Sehr wahrscheinlich werden Sie am Hauptbahnhof ankommen, dann begrüsst Sie St. Gallen gleich mit einem architektonischen Juwel. Nein, ich meine nicht die neue Überbauung und die digitale Uhr, die niemand lesen kann. Beides kann man getrost ignorieren. Ich spreche vom Bahnhofsvorplatz, der eigentlich eine italienische Piazza sein will. Das Vorbild findet sich – ohne Witz – am Hauptplatz von Verona. Bahnhof und Hauptpost aus den 1910er Jahren waren einst St. Gallens Aushängeschild als weltweite Stickerei-Hochburg.
Der Textil-Boom ist längst passé, auch wenn St. Galler Spitze noch manches Prominenten-Dekolleté umflattert. Cameron Diaz, Michelle Obama oder die Queen wurden in Ostschweizer Tuch gesichtet – die lokalen Zeitungen berichten jeweils stolz darüber. Von den goldenen Jahren übriggeblieben sind die teils pompösen Bauten jener Zeit. Nur ein paar Meter vom Bahnhof entfernt steht in der St. Leonhard-Strasse das Stickerei Geschäftshaus «Oceanic», das erste Jugendstilgebäude der Stadt. Auch wenn hier der Verkehr rauscht, sollten Sie sich Zeit nehmen, dieses Ensemble zu betrachten. Wie auf Stelzen steht das fünfstöckige Haus mit seiner geschwungenen Fassade im Trubel der Stadt. Das Haus ist ein Statement: St. Gallen ist eine Metropole von Welt. Besonders schön sind die Flachreliefs, welche die Moiren zeigen – griechische Göttinnen, die den Schicksalsfaden weben. Nomen est Omen.
Weiter geht es daher zur nahen Stadtlounge in der Parallelstrasse (Vadianstrasse). Wo früher Stoffe gebleicht wurden, befindet sich heute St. Gallens Beitrag zur zeitgenössischen Kunst. Die Künstlerin Pipilotti Rist und der Architekt Carlos Martinez haben ein monströses Openair-Wohnzimmer entworfen, das so rot leuchtet wie ein Tartan-Sportplatz. Die Sofas, Tische und Lichtkugeln sind die grösste benutzbare Kunstinstallation Europas und ein beliebter Ort für die Mittagspause der Banker. Hier am Platz befindet sich auch die Synagoge mit schöner Fassade.